25.05.2021

Kleines Dorf mit großen Ambitionen: In Freiamt im Schwarzwald startet bald ein Versuch, der die Energiewende vor Ort entscheidend voranbringen soll. Das Projekt flexQgrid leitet Carmen Exner von Netze BW. Im Interview erzählt sie, wie die Corona-Pandemie die Arbeit beeinflusst  und verrät, wie sie und das Forschungsteam die Einwohner trotzdem überzeugt haben, mitzumachen.

Porträtbild Carmen Exner
© Netze BW GmbH
Carmen Exner (28) ist studierte Elektrotechnikerin. Seit rund drei Jahren arbeitet sie in Stuttgart bei Netze BW in der Abteilung Technik Innovation und leitet dort seit November 2019 das Projekt flexQgrid.

Im August startet der einjährige Feldtest, sozusagen das Herzstück des Projekts. Als Versuchsort haben Sie Freiamt im Schwarzwald ausgesucht – so wie auch beim Vorgängerprojekt grid-control. Wie sind Sie ausgerechnet auf diesen 4000-Einwohner-Ort gekommen?

Exner: Freiamt ist einer der sonnenreichsten Orte in Baden-Württemberg. Die Bürgerinnen und Bürger sind der Energiewende gegenüber dort sehr offen eingestellt. Sie haben schon früh in Photovoltaik (PV)-Anlagen investiert. Die sieht man auf vielen Dächern von Einfamilienhäusern und landwirtschaftlichen Gebäuden, wie Scheunen. Damit produzieren die Einwohner ein Vielfaches der Energie, die sie verbrauchen. Die geographischen Voraussetzungen zur Öko-Strom-Erzeugung und das Mindset der Leute sind also perfekt.

Und wie haben Sie einige der Freiämter für den Feldtest gewinnen können? Wenige Monate nach dem Projektstart im November 2019 ist die Corona-Pandemie ausgebrochen. Unter den damit verbundenen erschwerten Bedingungen Leute zum Mitmachen zu bewegen, war bestimmt nicht so einfach, oder?

Corona war und ist ganz klar unsere größte Herausforderung. Wir konnten zum Beispiel keine größere Informationsveranstaltung vor Ort durchführen. Dadurch fehlte uns die Möglichkeit, direkt mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Und wie Sie sich vorstellen können, war die Motivation, nach einem anstrengenden, langen Arbeitstag im Homeoffice abends noch an unseren digitalen Info-Veranstaltungen teilzunehmen, weniger stark. Ein paar Anwohner haben sich dennoch reingeklickt. Weil wir auf diesem Weg aber nicht die große Masse erreicht haben, haben wir die Menschen dann stattdessen auf die ganz klassische Art und Weise kontaktiert – nämlich per Brief.

Quartierspeicher vor einem Einfamilienhaus in Freiamt
© Netze BW/ Andreas Martin
Das Forscherteam testet für ein besseres Netzengpassmanagement in Freiamt nicht nur Heimspeicher, sondern auch Quartierspeicher (links).

In Zeiten von Chatting und Sprachnachrichten scheinen Briefe wirklich oldschool. Wie haben die Adressaten darauf reagiert?

Manche haben sich zurückgemeldet; darüber haben wir uns sehr gefreut. Zusätzlich haben wir mit Abstand und Mund-Nasen-Maske bei den Anwohnern an der Haustür geklingelt und da über uns und unser Projekt aufgeklärt. Die meisten haben sich in dem Moment an unseren Brief erinnert, mit dem wir uns quasi angekündigt haben. Aber wir haben schon gemerkt, es ist eine Herausforderung, ein so komplexes Thema wie die Energiewende so darzustellen, dass es jeder versteht – gerade gegenüber denjenigen, die unser Schreiben zwar gelesen, aber dann zur Seite gelegt und wieder vergessen hatten. Für viele kommt Strom einfach aus der Steckdose. Punkt. Mit dem Hinweis, dass sie Teil eines zukunftsweisenden Forschungsprojekts sein und mithelfen können, wichtige Erfahrungen zu sammeln, haben wir viele dann überzeugt.

Was für wichtige Informationen genau sind das, die Sie sich von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern erhoffen?

Erfahrungen und Wünsche mit den Energiesystemen und Steuereingriffen im Rahmen des Feldtests. Hat unsere Steuerung beziehungsweise die Vorgabe, den Stromverbrauch zu senken, den Teilnehmer überhaupt beeinflusst? Welcher Automatisierungsgrad ist sinnvoll oder wo möchte der Feldtestteilnehmer selbst eingreifen können? Das werden wir mithilfe von standardisierten Interviews herausfinden.

Kurz erklärt: Darum geht's im Projekt flexQgrid

Die Partner untersuchen den Einsatz von Flexibilität in der Niederspannungsebene des Verteilnetzes in Freiamt. Sie möchten wissen: Welche Anreize bringen die Feldtestteilnehmer dazu, netzdienliche Flexibilität bereitzustellen?

Dafür werden beim Feldtest 23 Haushalte und 21 weitere Photovoltaik (PV)-Anlagen verbunden. Die Einfamilienhäuser erzeugen mithilfe von PV-Anlagen großteils selbst Energie. Zum Teil sind sie auch mit Batteriespeichern, Wärmepumpen und Elektro-Autos mit Ladestationen ausgestattet.

Alle Anlagen rüstet das Team mit moderner Mess- und Steuerungstechnik aus, sodass sie von einem Energiemanagementsystem gesteuert werden können. Wenn alle Teile wie Zahnräder ineinandergreifen, können Engpässe im Netz künftig vermieden werden.

In wenigen Monaten geht es mit der konkreten Forschung los. Wie bereiten Sie und Ihr Team den Feldtest derzeit in den letzten Zügen vor?

Wir arbeiten daran, die vielen einzelnen Bestandteile, wie Anlagen, Komponenten und Betriebsmittel in den Haushalten und in den Netzen zu installieren. Der Mobilfunkempfang im Schwarzwald bereitet uns schon mal Kopfschmerzen. Er ist leider nicht immer so gut, wie er sein sollte. Wir brauchen aber zwingend Empfang – insbesondere, damit wir die erhobenen Messdaten digital an unsere beteiligten technischen Systeme übermitteln können.

Modell eines dezentralen Energiesystems
© Netze BW/ Andreas Martin
Verteilnetz der Zukunft: Das Modell zeigt, wie Einfamilienhäuser, Photovoltaik-Anlagen und ein Windrad mit dem Energieversorger Netze BW verbunden sind. Intelligente Haushalte spielen im Projekt flexQgrid eine entscheidende Rolle.

Sicher laufen die Vorbereitungen auch wegen Corona aktuell anders als früher.

Absolut. Die größte Herausforderung ist, den Feldtest unter Corona-Bedingungen aufzuziehen. Digital ist es manchmal anstrengender und langwieriger etwas umzusetzen als wenn wir das einfach vor Ort oder am Nachbarschreibtisch klären könnten. Zum Beispiel muss ein digitales Meeting anders vorbereitet und moderiert werden. Manche Installationen in Freiamt verzögern sich wegen bestimmter Corona-Auflagen oder weil benötigte Komponenten vom Hersteller erst später geliefert werden als ursprünglich angenommen. Wir müssen also insgesamt mehr planen. 

Pandemiebedingte Herausforderungen, wie Sie sie schildern, erleben im Berufsalltag momentan viele Menschen. Wie gehen Sie und das Projektteam damit um?

Wir ziehen alle an einem Strang, weil wir etwas erreichen wollen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass sich alle Beteiligten bemühen, flexibel zu sein. Wenn eine Hürde auftaucht, diskutieren wir und suchen nach alternativen Möglichkeiten. Auch wenn man im ersten Moment meint, man hat eigentlich kaum Zeit dafür. Und manchmal werden eigene Themen hintenangestellt, wenn man merkt, dass der Schuh bei einem Kollegen gerade mehr drückt. Für diese Hilfsbereitschaft und die kreativen Lösungen bin ich sehr dankbar. Das ist einfach schön zu sehen und deswegen macht mir die Zusammenarbeit viel Freude.

Das klingt nach guten Voraussetzungen. Wie blicken Sie auf den Feldtest?

Wir hoffen, dass wir zuverlässig Messdaten bekommen und die Steuerungen funktionieren. Sollte es technisch nicht so funktionieren, wie erhofft, werden wir öfter vor Ort sein, um nachzubessern. Wenn alles flüssig läuft, brauchen wir nicht aktiv werden. Gut ist, dass der Test ein ganzes Jahr lang laufen wird, also nicht zu kurz. Für alle Fälle haben wir außerdem einen Puffer eingeplant. Ich bin optimistisch, dass wir den Feldtest pünktlich im August starten können. Wir sind im Zeitplan.

Das Interview führte Katharina Klöber, Wissenschaftsjournalistin beim Projektträger Jülich.

flexQgrid – Praxisorientierte Umsetzung des quotenbasierten Netzampelkonzepts zur Flexibilitätsnutzung im und aus dem Verteilnetz

För­der­kenn­zei­chen: 03EI4002A-H

Projektlaufzeit
01.11.2019 31.03.2023 Heute ab­ge­schlos­sen

The­men

Stromnetze

Integration von Flexibilitäten

 

För­der­sum­me: gut 5,2 Millionen Euro

Website flexQgrid

Modell zweiter intelligenter Einfamilienhäuser
© Netze BW/ Andreas Martin

Interessantes zum Feldtest und zu Veröffentlichungen sowie aktuelle Nachrichten aus dem Konsortium finden Sie auf der Homepage des Forschungsprojekts.

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Website grid-control

Wissenswertes zum Vorgängerprojekt, dem Feldtest, zu erarbeiteten Lösungen sowie Informationen zu Veröffentlichungen finden Sie auf der grid-control-Homepage.

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